Dienstag, 30. September 2014

Übersetzen: jemanden von einem orte an einen anderen bringen*

Zum heutigen Internationalen Übersetzertag möchte ich an meinen väterlichen Freud und Kollegen Klaus Staemmler ** erinnern.

Klaus Staemmler wurde 1921 als Deutscher im polnischen Bydgoszcz / Bromberg geboren, sein Vater gehört zu den Opfern des sogenannten Bromberger Blutsonntags. Sein 1975 erschienenes Lesebuch „Polen aus erster Hand” hat er ihm, erschossen von einem Polen, und gleichzeitig dem Vater seines besten Freund, ermordet im KZ, gewidmet, „auf dass kein Deutscher und kein Pole je wieder am Hass zwischen den beiden Nationen sterbe!”

Staemmler gehört zu den wichtigsten Protagonisten der polnischen Literatur in Deutschland, er hat Lem und Iwaskiewicz, Zbigniew Herbert, Szczypiorski, die Nobelpreisträgerin Wyslawa Szymborska und viele mehr übersetzt. Der sensationelle Erfolg der „Schönen Frau Seidenmann” ist seiner Übersetzung und seinem Engagement für das Buch zu verdanken. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet fast 200 Einträge unter seinem Namen. Im Bericht zur Preisverleihung beim Lyrikertreffen in Münster 1997 ist ein kleines Beispiel seiner Kunst veröffentlicht.

In unserem jahrelang geteilten winzigen Büro hatte er an der Wand ein Bild der berühmten etruskischen Pferde von Tarquinia  hängen:

Die geflügelten Pferde von Tarquinia.
Foto von Ulrich Mayring bei wikimedia

Das sei, so hat er erläutert, ein wunderbares Symbol für die Zusammenarbeit von Autor und Übersetzer: im Vordergrund steht der Verfasser, aber der Übersetzer in Hintergrund steht weiter vorn, näher beim Leser.

Ich bin sehr froh, dass ich ihn kennen durfte.

* Grimm'schs Wörterbuch zu „Übersetzen"

**(der link führt zu google-books Eintrag zu "Polnische Literatur in der Bundesrepublik Deutschland 1945/1949 bis 1990" von Hedwig Nosbers mit dem Eintrag zu ihm)

Sonntag, 28. September 2014

3 aus 781 - vom Suchen und Finden des richtigen Buches zum richtigen Preis

Hartnäckig hält sich das Gerücht, Georg Büchner habe neben Dantons Tod, Leonce und Lena und Woyzeck ein weiteres Drama geschrieben, das verloren sei. Im Geschwister-Blog habe ich darüber und über den Versuch Jan Hauschilds, das Stück nachträglich zu erfinden, geschrieben.

Am 17. Oktober wird Hauschilds Drama von der Büchnerbühne uraufgeführt, und um mich ein bisschen schlauer zu machen, habe ich mir vorgenommen, über Aretino, den großen Renaissance-Spötter, zu lesen.



Begonnen habe ich mit dem wikipedia-Eintrag „Aretino”, der weist verschiedene Ausgaben und Biographien nach. Leider wie immer „für die Füße” ist die Suche nach Erschienenem und Lieferbarem im hier wie fast stets scheiternden „Verzeichnis Lieferbarer Bücher”. Bei Eingabe von „Pietro Aretino” in der „erweiterten Suche” unter „Autor” erhalte ich null Treffer (!). Korrigiere ich in „Aretino, Pietro”, werden sechs Titel angezeigt; fünf davon unvollständig und so nicht zu gebrauchen, die Einträge enden jeweils mit der Laien gänzlich unverständlichen Nachricht „Quelle: BARSORTIMENTSDATEN (D)/ keine Bearbeitung durch das VLB!”. Seriös nachgewiesen wird ausschließlich ein Hörbuch aus dem Eichborn-Verlag, 7 CDs „Erotische Schatzkiste”. Selbst bei Bastei-Lübbe/Eichborn direkt finde ich aber nicht heraus, wieviel Aretino da denn jetzt drin ist - es handelt sich um, „prickelnde und offenherzige Geschichten zu einem attraktiven Preis ” - lieber nicht! 

Also Amazon. Hier suche ich „Pietro Aretino in Bücher”  (nicht, dass mir noch ein formschönes Erotikspielzeug gleichen Namens angeboten würde ...) und erhalte 395 Ergebnisse. Die Suche auf Titel mit dem Autor Aretino einschränken ist nicht möglich, ebenso wenig die Suche nach Titeln ausschließlich in deutscher Sprache. Angeboten wird zu filtern nach: 

Romane & Erzählungen (6)
Belletristik (17)
Erotik (14)
Lyrik (1)
Biografien & Erinnerungen (26)
Computer & Internet (1)
Fachbücher (87)
Film, Kunst & Kultur (38)
Geschenkbücher (1)
Kochen & Genießen (1)
Krimis & Thriller (1)
Naturwissenschaften & Technik (2)
Politik & Geschichte (45)
Ratgeber (2)
Reise & Abenteuer (57)
Religion & Glaube (2)
Schule & Lernen (10)
Sport & Fitness (5)

Das sind zwar komischerweise nur 316 Titel und nicht mehr 395, hilft mir aber sowieso nix. Sortiere ich nach Erscheinungsdatum, kommt als erster Treffer eines Werkes von Aretino auf der dritten Seite (mit jeweils 12 - 16 Titeln) ein Reprint, der mir als „Taschenbuch” die „Gespräche” anbietet. Um den Übersetzer und die Textquelle zu finden, muss ich den „Blick ins Buch” aufrufen und das dürftige Impressum ansehen - es ist die Übersetzung von Heinrich Conrad nach der Ausgabe im Insel-Verlag von 1980. Aus dem wikipedia-Artikel weiß ich schon: es ist die Ausgabe von 1903, die hier zitiert wird. Als „kindle-ebook” schließlich zeigt Amazon drei Titel, davon zweimal die Ausgabe der Hetärengespräche, eine umsonst, und beide ohne Hinweis auf den Übersetzer bzw. die Textquelle. Die kostenlose Ausgabe habe ich „gekauft”, es handelt sich ebenfalls um die Conrad-Übersetzung, eine Quelle ist nicht angegeben. 

Sortiere ich, immer noch bei Amazon, schließlich nach „beste Ergebnisse”, finde ich unter den ersten Titel als gebraucht angeboten Thomas Hettches 1999 herausgegeben „I Modi - Stellungen” und eine TB-Ausgabe der „Kurtisanengespräche”, ebenfalls in der Conrad-Übersetzung, 1993 bei Heyne erschienen. Weiter unten kommt dann noch das Angebot für eine gebrauchte Ausgabe des Insel-Taschenbuchs der Kurtisanengespräche von 1998. Bei ausreichender Bildschirm-Vergrößerung lässt sich auf der Abbildung des Einbandes ablesen, dass das eine Übersetzung von Ernst Otto Kayser ist, die wikipedia nicht erwähnt. Hier kann ich also immerhin zwei verschiedene Übersetzungen der „Gespräche” für 77 ct bzw. 1,35 € kaufen. Danke nein. 

Versuchen wir eine dritte Suche. Meine Stütze buchhändlerischer Bibliografie, meine Quelle von Auskünften aus gepflegten Kataloge und Lieferant abwegiger Titel aus dem Orkus der Buchproduktion: die Fachbuchhandlung Lehmann. Mit der Einschränkung „deutsch” finde ich unter „erweiterte Suche“ vom Autor Pietro Aretino 20 Titel angezeigt, 3 lieferbar, davon zwei ebooks. Auch von Lehmanns aus muss ich erst den „Verlag” „Tredition” aufsuchen, um schließlich dort herauszufinden: auch das ist die Wiedergabe der Conrad-Übersetzung, als Paperback für 19,90 €, als Hardcover für 34,90 € (!). Schließlich suche ich in den Lehmann-Datenbanken noch mit „Aretino” als Stichwort und erhalte 60 Funde, davon am Ende der ersten Seite an Position 19 und 20 Heidi von Platens  „Das verschwundene Manuskript” (12,90 €) und an 20. Stelle die Aretino-Biografie Gustav Reglers „Aretino - Freund der Frauen, Feind der Fürsten”, auch eine Neuausgabe, 2000 bei Stroemfeld erschienen zum Preis von 34 €. 

Danach habe ich im „ZVAB” weitergesucht, die 781 lieferbaren antiquarischen Titel zum Stichwort „Pietro Aretino” nach „Erscheinungsjahr, aufsteigend” sortieren lassen und am 22. 9. bestellt: 

Autor: Regler, Gustav, Titel: Aretino. Freund der Frauen, Feind der Fürsten. Roman.
Antiquariat Silvia Forster EUR 8

Das ist die Erstausgabe von Reglers Biografie, 1955 bei Scherz erschienen (Wilpert G. II, 17).   

(Das Buch ist noch auf dem Postweg und kann daher noch nicht hier abgebildet werden.)



Autor: Aretino, Pietro / Kayser, Ernst Otto. Titel: Die Gespräche des Pietro Aretino. Privatdruck von Dr. Sally Rabinowitz Verlag. Zum ersten Male […] Versandantiquariat Elke Rehder EUR 14,00

Das ist die Originalausgabe von Kaysers Übersetzung in der limitierten Erstausgabe von 1921, ein großformatiger und gut erhaltener Halblederband in sorgfältigem Satz;  allerdings fehlt die fortlaufende Nummer (wahrscheinlich ein sogenanntes hors de commerce-Exemplar für an der Produktion beteiligte Mitarbeiter)





Autor: Aretino, Pietro: Titel: Geschichten aus Aretino. Antiquariat Buchhandel Daniel Viertel EUR 22  

Ebenfalls die Erstausgabe, hier der Übersetzung von Conrad, erschienen als Privatdruck 1907, dieser Band in Pergament mit der Nummer 203; allerdings fehlen die wertvollen Bayros-Illustrationen. (cplt findet sich das beim zvab z. Zt. zweimal, zum Preis von 480 oder 484 €). 







Im Ramsch habe ich dann noch die 2008 bei Aufbau erschienen Neuausgabe von Conrads Übersetzung der Hetärengespräche für 2,99 € und die Aretino-Biographie „Kurtisanenfreund und Fürstenplage" von Klaus Thiele-Dohrmann, erschienen 1998  bei Artemis (4,29 €), gekauft.







Für knapp über 50 € habe ich jetzt also 5 Bände von und über Aretino, darunter zwei limitierte und häufig nachgedruckte Originalausgaben und die Erstausgabe der (ebenfalls neu aufgelegten) Gustav Regler Biografie gekauft. Der Buchhandel im klassischen Sinn hat mir dabei nicht geholfen. Sämtliche Originale waren billiger als die verfügbaren Nachdrucke. Allerdings hat mich das etwa 2 Stunden Recherche gekostet und wäre ohne ein paar grundlegende Kenntnisse von Datenbanken und Bibliographien langwieriger und vielleicht auch weniger erfolgreich gewesen. Als Dienstleistung ist das kaum zu bezahlen - oder würde wer schätzungsweise 150 € zusätzlich für eine solche Suche bezahlen?








Montag, 22. September 2014

Warum denn in die Ferne schweifen ... ?!

Am diesjährigen Tag des offenen Denkmals haben wir nachmittags zwei „Objekte” in unmittelbarer Nachbarschaft besucht.

Zuerst fuhren wir nach Malchen, wo die kleine, 1514 ersterwähnte und heute evangelische Dorfkirche geöffnet war.

Die Kirche in Malchen (Seeheim-Jugenheim) von Westen

Malcher Kirche von Osten


An der Innenwand haben sich Fresken aus der vorreformatorischen Zeit erhalten. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden sie freigelegt, dabei entstand auch die nicht authentische Bemalung der Decke. Vor einigen Jahren sind die Bilder dann noch einmal gesichert worden. Es handelt sich um nicht besonders hochwertige Malerei, wohl nach Schablonen, die wahrscheinliche eine reisende Malertruppe hier angebracht hat. Schön, dass sich dieser Schatz in dem Kirchlein erhalten hat - und schade, dass die Protestanten nach wie vor dazu neigen, ihren Herrgott in der Kirche einzuschließen, statt ihm, wie die Katholiken das tun, wenigstens Besuchsfreiheit zu gewähren ... Das macht den Zugang zu solchen Schätzen, die immerhin nicht nur aus den ziemlich öffentlichen Kirchensteuern, sondern gerade im Fall erhaltenswerter Denkmäler auch aus unmittelbar öffentlichen Geldern gefördert wurden, leider oft kaum möglich.  Der Gesamteindruck des Kirchleins könnte übrigens erheblich verbessert werden, wenn die schrecklichen 50er-Jahre Kronleuchter verschwänden ...

Malcher Kiche. Passionszyklus-Fresken aus dem frühen 16. Jahrhundert


In unmittelbarer Nähe steht das letzte erhaltene Wäschetrockenhaus des kleine Dörfchens, wo viele Jahrzehnte lang die Wäsche der Darmstädter gewaschen, getrocknet und gebügelt wurde.*

Malchen (Seeheim-Jugenheim). Letztes erhaltenes Wäschetrockenhaus.

Die typischen verstellbaren Jalousien an den stets geöffneten Fenstern 

Von hier aus fuhren wir über Biblis an den Rhein nach Nordheim, wo der Fährhausturm von 1901 an den Rheinübergang mit einer Gierfähre erinnert.


Der Fährtum bei Nordheim

Historisches Foto der Nordheimer Gierfähre (1898)

Modell der Gierfähre 
Schon 1364 gibt es eine erste Erwähnung einer Rheinfähre bei Nordheim. 

Die „moderne” Fähre von 1894 wurde ohne Motor, vom Druck des Wassers und gelegentlich von seitlich angebrachten Segeln unterstützt, betrieben. Indem der Fährmann das Boot an der über 500 m langen Kette, die mitten im Rhein verankert war, schräg in den Fluss stellte, schob der Wasserdruck sie in die gewünschte Richtung. Leider zeigt das oben abgebildete Modell die kleinen Schiffchen, die das Seil als Bojen trugen, falsch in verschiedene Richtungen weisend. Tatsächlich standen die Spitzen natürlich alle gegen die Fließrichtung. 

Der Fährturms diente den Betreibern als Unterkunft; nachts musste die Gierfähre ans rechte Ufer gefahren werden, der Schiffsverkehr verlief auf der tieferen, linken Flussseite. Bis 1955 gab es hier regelmäßigen Fährverkehr, und an Wochenenden sollen mehrere tausend Rheinhessen zum Kaffee „Zur Waldesruh” übergesetzt haben.

In Erinnerung daran verzehrten wir zu zweit das letzte übrig gebliebene Stück Kuchen „Zur Rheinfähre" (ein lohnendes Ausflugsziel auch ohne Denkmalstag) und guckten den Denkmalstag-Aktivistinnen bei der Demonstration der historischen Goldwäscherei im Rhein zu. 


Der Tag des offenen Denkmals ist eine wunderbare Einrichtung, die gerade für die unscheinbaren und vielleicht ein wenig abseits gelegenen historischen Orte und ihre verdienstvollen Pflegerinnen und Aktivistinnen eine gute Gelegenheit zur öffentlichen Wahrnehmung bietet. Hier wird Motto und Programm veröffentlicht; der nächste Tag des offenen Denkmals ist Sonntag, der 13. September 2015. 

Auf dem Rückweg sahen wir natürlich die alles beherrschende Silhouette des Kernkraftwerks, von dem zu hoffen bleibt, dass es vor dem Erkennen seiner Denkmalwürdigkeit möglichst bald und unschädlich dem Erdboden gleich gemacht wird. (Nein, kein Foto!)

 
* In der Buchreihe: Agnes Schmidt und Elke Hausberg: Stadtrundgänge - Darmstadt aus Frauensicht (Herausgeber: Luise-Büchner-Bibliothek des Deutschen Frauenrings e.V., Preis: 12 Euro je Band; erhältlich im Buchhandel, Darmstadt Shop im Luisencenter und in der Luise-Büchner-Bibliothek, Kasinostr. 3) erschien als Band 3:Waschen, Kochen, Baden: Frauenleben vom Marktbrunnen zum Großen Woog, 2009. 

Donnerstag, 18. September 2014

Hat die Geschichte eines jiddischen Autors Martin Walser eines Besseren belehrt?

Dieser Beitrag steht hier auch als Audiofile zum Anhören zu Verfügung! 


Ich schäme mich bis heute, dass ich es 1998 nicht gewagt habe, die Paulskirche bei Martin Walsers unsäglicher Bemerkung über die Instrumentalisierung der Schande wenigstens halbwegs demonstrativ zu verlassen.

Ich, nachdenklich, im Publikum der Friedenspreisrede Martin Walser 1998 in der Frankfurter Paulskirche.

Ich saß so weit hinten, dass das der Weltpresse allerdings wahrscheinlich ebenso entgangen wäre wie die Tatsache, dass ich mich geschämt habe und am Ende auch nicht Beifall klatschte. Solche hochfeierlichen Veranstaltungen haben etwas Zwingendes, das es fast unmöglich macht, den Konsens gutbürgerlichen Benehmens zu verlassen. In den Siebzigern haben allerdings mehrfach Verwandte und Sympathisanten der RAF Friedenspreisverleihungen gestört und für verbesserte Haftbedingungen protestiert. Die erste Friedenspreisverleihung, die ich wahrnahm, war die von 1968 an Leopold Sedar Senghor, gegen den es vor der Paulskirche als „Ideologe des Neokolonialismus” zu Demonstration und Auseinandersetzung kam. Daniel Cohn-Bendit wurde in der Folge damals zu acht Monaten Gefängnis (in zweiter Instanz sechs Monaten) verurteilt.

Zurück zu Martin Walser. In der Paulskirche hat er gesagt:

„Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“
Martin Walser: Rede in der Paulskirche am 11. Oktober 1998 (zit. aus der u.a. hier veröffentlichten Rede)  

Ignaz Bubis musste öffentlich darauf aufmerksam machen, was Walser da gesagt hatte - in der folgenden Bubis-Walser-Debatte haben sich dann noch Rudolf Augstein und Klaus von Dohnanyi unrühmlich hervorgetan. Tobias Jaecker hat 2003, fünf Jahre später, hier bei hagalil.com gründlich beschrieben, was sich damals ereignete. Das widerliche Schlagwort von der „Moralkeule Auschwitz” war in der Welt und ist bis heute nicht aus der öffentlichen Diskussion verschwunden.

„Erstmals hatte ein angesehener Repräsentant der gesellschaftlichen Mitte ausgesprochen, was bisher offenbar nur klammheimlich gedacht worden war. Die überwiegend positiven Reaktionen haben seine Rede als "Befreiungsschlag" erscheinen lassen, der generationenübergreifend und quer durch die Gesellschaft ging. Sogar Bundeskanzler Gerhard Schröder verhehlte kaum seine heimliche Zustimmung und ließ vernehmen: "Ein Dichter darf so etwas. Ich dürfte das nicht".
Walser fühlte sich durch diese Reaktionen legitimiert, für das gesamte deutsche Volk zu sprechen, um es von der "Vergangenheit, die nicht vergehen will" (Ernst Nolte) zu befreien. Dies hatte Auswirkungen: Laut einer Meinungsumfrage von Ende Dezember 1998 befürworteten immerhin 63% der Deutschen, dass ein "Schlussstrich unter die Diskussion um die Judenverfolgung" gezogen werden solle – deutlich mehr als in den Jahren zuvor. ...
Es gilt, sich der NS-Verbrechen nicht nur aus der Täter- sondern auch aus der Opferperspektive zu erinnern, ohne diese freilich zu vereinnahmen. Und das heißt, "erinnernde Solidarität" (Micha Brumlik) zu üben. Die Erinnerung an Auschwitz muss dabei auch verbindlich öffentlich sichtbar (Peter Reichel) stattfinden, damit sie im kollektiven "kulturellen Gedächtnis" (Aleida Assmann) bewahrt werden kann.” (Jaecker a.a.O.)


Andreas Platthaus hat hier in der FAZ vom 17.9.2014 über eine Veranstaltung berichtet, bei der sich Martin Walser im Hinblick auf den Mord am europäischen Judentum so geäußert hat:

„Wir, die Deutschen, bleiben die Schuldner der Juden. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“ 


Das ist in der Tat die einzige Haltung, die mit Anstand vertreten werden kann. Und es ist sehr erfreulich, dass Martin Walser sie sich inzwischen zu eigen gemacht hat. Platthaus: „Wenn es etwas wie ein aus der kollektiven Schuldzuweisung entwickeltes persönliches Schuldeingeständnis gibt, dann ist es hier gefallen. Und wörtlich - also nachlesbar - findet es sich so auch in Walsers Essay.” 

Es ging dabei um die Vorstellung von zwei Büchern, Walsers „Shmekendike Blumen - Ein Denkmal für Sholem Yankev Abramovitsh“ und das große Werk von Susanne Klingenstein „Mendele der Buchhändler - Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh“.

Mendele Moicher Sforim (1835 bis 1917), der sich meist Sholem Yankev Abramovitsh  nannte, gilt als einer der bedeutendsten Autoren jiddischer Sprache. Klingenstein und Walser nähern sich ihm auf unterschiedliche Weise; ich will versuchen, die beiden Bände hier gelegentlich zu besprechen.



Mittwoch, 17. September 2014

Bilder zur Zerstörung Darmstadts 1944 im Kunstarchiv

Blick in die Ausstellung
Claus Netuschil mit Sohn Fritz und Enkel Alex des Künstlers Karl Deppert



Am 11. September eröffnete im Darmstädter Kunstarchiv die Ausstellung



„Das Feuer fraß die halbe Stadt
Bilder zur Darmstädter Brandnacht”









Die Ausstellung „Bilder zur Brandnacht“ zeigt Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen und Mischtechniken der Künstler Karl Deppert, Ernst Vogel, Annelise Reichmann, Willi Hofferbert, Marcel Richter und Eberhard Schlotter, die die Brandnacht miterlebt haben. Ihre traumatischen Erlebnisse sind nachhaltig wirkende Erinnerungsbilder des Darmstädter Stadtuntergangs vom 11. September 1944.



Studenten der Hochschule Darmstadt zeigen parallel die Video-Installation „Bewegtes Gedächtnis“.

Ich habe hier ja schon an die Bombardierung Darmstadts und meine eigene Verbindung damit aufmerksam gemacht. Im Kunstarchiv bietet sich noch für ein paar Tage die Möglichkeit, die beeindruckenden Auseinandersetzungen von Darmstädter Künstlern, die Zeugen der Vernichtung waren, zu sehen. Zusammen mit ihren Bildern werden einige Fotografien der Stadt nach der Zerstörung gezeigt, die im Großformat viel stärker wirken als in gedruckter Form, wie wir sie kennen.





Aus Karl Depperts 7-teiligem Temperazyklus


Die Ausstellung ist noch bis zum 26. September 2014 zu stark erweiterten Öffnungszeiten zu sehen: Dienstag bis Freitag 10 bis 18 Uhr und Samstag und Sonntag 11 bis 18 Uhr! 




Kunst Archiv Darmstadt e.V.
Kasinostr. 3/Kennedyhaus
64293 Darmstadt



Am Freitag, 19. September 2014 um 19.30 Uhr liest der Darmstädter Schauspieler Aart Veder innerhalb der Ausstellung im Kunst Archiv aus Texten von Zeitzeugen der Brandnacht.


Aus Karl Depperts 7-teiligem Temperazyklus

Der Kurator der Ausstellung, Claus K. Netuschil, führt am Sonntag, 21. September 2014 zweimal, um 11 Uhr und um 15 Uhr, durch die Ausstellung.




Sonntag, 14. September 2014

Mein Museum ist wieder da!

 Dieser Beitrag steht hier auch als Audio-File zum Anhören zur Verfügung:



Wie angekündigt, war ich gestern mein Museum angucken - nach 7 Jahren vollständiger Schließung ist es endlich wieder eröffnet!



Es macht sich die Redewendung breit, die langjährige Schließung „habe sich gelohnt” - tut mir leid, so tief werde ich nicht sinken, einen schweren und unverzeihlichen Fehler nachträglich gut zu heißen: daran war nichts gut! Von 2007 bis 2014 gab es in Darmstadt  für eine ganze Schülergeneration kein Museum!

Blick in die Eingangshalle

 Niemand kann sich vorstellen, dass Merck die Produktion für sieben Jahre wegen Umbaus einstellen würde, jedes Restaurant, jedes Kino, jeder Handwerksbetrieb wäre nach siebenjähriger Schließung für alle Zeiten verloren. Das hätte anders geregelt werden müssen! (Ich will damit übrigens die anerkennenswerte Leistung einer musealen Präsentation im Haus der Drucktechnik überhaupt nicht herabwürdigen, aber das konnte natürlich die Informations- und Bildungsdimension des Universalmuseums nicht ersetzen!).

Tatsächlich ist jetzt aber ein Tempel der Bildung entstanden, der seinesgleichen weltweit sucht. Keine Darmstadtbesucherin darf künftig an diesem Haus vorbeigehen.  Es ist ganz unmöglich, hier auch nur einen annähernden Eindruck der wunderbaren Wirkung von Alfred Messels Architektur mit den universalen Sammlungen des Museums zu verschaffen - HINGEHEN - und zwar künftig mindestens einmal im Monat!! 

Ägyptische Sammlung: Uscheptis

Jugendstil: Van de Veldes Büro der „Revue Blanche¨

Blick in die Jugendstilsammlung

Jugendstil-Programm in Glasfenster

Bewirtung im Innenhof

Das - vorerst provisorische - Café, witzig mit Holz aus den Umzugskisten.

18. Jahrhundert - links Carl von Savoys „Christus in Emmaus”, der Georg Büchner beeindruckte
(ja, ich finde auch, dass er sonst besser urteilte ...)

Feuerbachs „Iphigenie” mit zwei Varianten

Der - noch - leere große Saal im EG, vorgesehen für Sonderausstellungen


Zwei der historischen „Dioramen”, die gründlich restauriert, aber unverändert, präsentiert werden - immer noch ein Highlight!

Gattin mit Verwandtschaft


Gattin vor Richters 1024 Farben

ohne Worte

„Lucy” - Australopithecus afarensis (ca. 3 Mio Jahre alt - Kopie)

Historische Korkmodelle antiker Stätten, mit denen schon Georg Büchner unterrichtet wurde

Edit: ausführlich und mit Zahlen berichtet hier das Darmstädte Echo

Samstag, 13. September 2014

Mein Museum

Am Tag der Neueröffnung des Darmstädter Landesmuseums (mal sehen, wann die erfolgte Eröffnung in wikipedia nachgetragen wird ...) ein paar Reminiszenzen, bevor ich mich später in den Trubel der Erstbesichtiger einreihen will. Zur Geschichte des Museums ist übrigens der auf der eigenen Website veröffentlichte Text besser und informativer als wikipedia.



Seit Ostern 1966 war ich Schüler am Darmstädter Gymnasium LGG, und, in meiner Erinnerung am gleichen Tag, wurde das Landesmuseum „mein Museum”. Ich bin damals bestimmt über Jahre mindestens einmal im Monat dort gewesen, ohne Eintritt zu zahlen und ohne eine bestimmte Besichtigungsabsicht. Das Museum als Universalmuseum mit Sammlungen aus zahlreichen Gebieten ergänzte ganz prächtig meine Gewohnheit, Lexikon zu lesen - als Universalmuseum bot es die gleiche Vielfalt von Fremden und Vertrautem, aus der sich mein Weltbild zusammensetzte. Auch wenn ich Darmstadt später nicht mehr täglich sah - 1972 flog ich aus der Schule und musste meine Karriere in der Provinz fortsetzen - habe ich das Museum weiter regelmäßig besucht.* Viel später habe ich übrigens Theo Jülich, dem Direktor, vorgeschlagen, die Eröffnung des Museums, die damals noch für Herbst 2013 geplant war, mit einer Sonderausstellung zu Georg Büchners Jubiläen zu verbinden, und zwar unter besonderer Berücksichtigung seiner universalen Geschwister. (Sie wissen es: mehr über die Geschwister Büchner und regelmäßig Neuigkeiten zur Familie Büchner in meinen Geschwisterblog). Die Intention, Georgs Büchners darmstädter und familiäre Bezüge in den Mittelpunkt der Präsentation zu stellen, war 2011 noch Konsens derjenigen, die über eine neue Büchnerausstellung nachdachten. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist eine andere Geschichte. Dass aber die Universalität der Büchnerschen Interessen und die Universalität des Darmstädter Museums eine höchst verlockende Kombination bieten, bleibt meine feste Überzeugung, nicht zuletzt, weil ja genau dieses Museum und seine noch immer vorhandenen Ausstellungsstücke schon die Phantasie der Büchners angeregt haben. Der schreckliche „Christus in Emmaus” von Carel von Savoy zum Beispiel hat Georg Büchner und Alexis Muston tief beeindruckt.



In den letzten Jahren vor der Schließung hatte ich unvergessliche Stunden im Darmstädter Museum zusammen mit meiner 1996 geborenen Tochter. Ich hoffe, ich konnte ihr diese wunderbare, staunende Flanieren ein bisschen näher bringen - und es bricht mir immer noch fast das Herz, wenn ich daran denke, wie lange das in Darmstadt wegen der Umbauschließung jetzt nicht möglich war. Eine ganze Schülergeneration hat diese Chance verpasst, und das halte ich immer noch für unverzeihlich.





Als Ort von Sonderausstellungen übrigens kenne ich es aus der Vergangenheit überhaupt nicht. Die Event-Verwöhntheit, die uns immer dann in ein Museum führt, wenn es gerade mit oft aus der ganzen Welt zusammengeholten Ausstellungsstücken prunkt, hat ja durchaus zwei Seiten - und eine ist eben, dass das Sammlungsprinzip, für das es eigenständig steht, von den fremden Besuchern gar nicht wahrgenommen wird. Und ich falle natürlich immer wieder darauf rein, mir Kunstwerke in überfüllten Sonderausstellungen anzusehen, die normalerweise ganz bescheiden und wenig beachtet in ständig zugänglichen Dauerausstellungen hängen. Wäre es nicht bildender, für die Museen kostengünstiger und für uns stressfreier, anstelle der Kunstwerke die Besucherinnen reisen zu lassen? Natürlich ist es toll, wenn Beckmann-Bilder oder Picassos oder antike Großplastik oder oder aus New York, Paris, London, Athen usw. usf. zusammengeholt und ausgestellt werden können. Dennoch rege ich an (und kann ja vielleicht gelegentlich mal mit einem Vorschlag hier dazu beitragen), nicht nur Gebäude, sondern auch Kunstwerke „an ihrem Ort” aufzusuchen und sich so z.B. die Brücke-Maler, Rembrandt oder Piero della Francesca zur ganz eigenen Reise-Sonderausstellung zusammenzusortieren.

 So. Und jetzt gehe ich los, mir angucken, ob alles ordentlich ausgepackt und am rechten Platz präsentiert wird!



Fotos vom „Kehraus” des Museums vor der Schließung im September 2008






*Es ist eine berechtigte Frage, ob ich vielleicht mit mehr Schul- und weniger Museumsbesuch am LGG hätte bleiben können; aber so sehr ich manche andere Wendung in meinem Leben bedaure, so wenig tut's mir darum leid.