Samstag, 22. November 2014

Wir alle haben Nazis getroffen

Zu meiner samstäglichen Zeitungslektüre gehört ziemlich regelmäßig eine Bildzeitung. Das dient mir in selbstgerechter Überheblichkeit zur Bestätigung getroffener Urteile und zur Erkenntnis darüber, was aktuell Stammtisch- und Kantinenthema in Deutschland ist.

Heute früh ist es der Redaktion gelungen, mich zu überraschen. Über eine ganze Seite wird berichtet, wie die Bildzeitung in den sechziger Jahren Überwachungsgegenstand des BND geworden ist (ACHTUNG: dieser Link führt auf die Seite der Bildzeitung, was hier eigentlich nicht üblich ist ... „So spähte der BND den Verlag Axel Springer aus”). Das ist schon insofern ein starkes Stück, als die gesetzlich definierte Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes die AUSLANDSaufklärung ist. Bild schließt den online-Bericht so:

„Warum wollte das Kanzleramt über den BND Informationen aus dem Springer-Verlag?
Bodo Hechelhammer, Leiter der Forschungs- und Arbeitsgruppe BND-Geschichte, zu BILD: „Die Erforschung und rechtliche Beurteilung von historischen Sachverhalten bleibt hiesigen Erachtens der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten und ist nicht Aufgabe des BND.“

Ausriss: BILD vom 22. 11. 2014


Der Spitzel war Horst Mahnke, Ex- SS-Hauptsturmführer, hauptamtlich in Himmlers Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und nach dem Krieg 1952 bis 1960 Redakteur und Ressortleiter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, dann Chefredakteur von Axel Springers Zeitschrift Kristall, Geschäftsführer im redaktionellen Beirat des Springer-Verlags und 1969 bis 1980 Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger. Im Netz ist der heutige Bericht in drei Teile geteilt, neben dem o.a. Text gibt es auch noch (ACHTUNG: auch diese Links führen auf die Seite der Bildzeitung, was hier nicht einreissen soll) „Der Mann, der bei Springer „DN Klostermann“ war” und „Forderte Israel den Rauswurf ...” .  Der SPIEGEL, wo Mahnke 1956 Leiter des Ressorts „Internationales” war, berichtete 2013 über die „Inlandsaufklärung” des BND und nannte auch seinen Namen. Mahnke spielt als enger Mitarbeiter Six's auch eine Rolle in Lutz Hachmeisters Habilitation „Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six” (1998 bei C. H. Beck erschienen, vergriffen. Six war ein deutscher SS-Brigadeführer, NS-Funktionär, Propagandist des Holocausts und nach 1945 Werbechef der Porsche Diesel Motorenbau GmbH. 1953 war er Geschäftsführer des C. W. Leske-Verlages in Darmstadt). 

„Dr.” Horst Mahnke, der 1941 mit einer Arbeit „zur freimaurerischen Presse in Deutschland” „promovierte” (keine Frage, dass das ein widerliches Konglomerat von Verschwörungstheorie und Nazibarbarismus war, das die Deutsche Bibliothek mit „nicht für den Austausch” markiert, aber sehr wohl eine Frage, warum eigentlich all die ehrenhaften Doktoren unter Nazi-Recht fraglos promoviert bleiben... ), wurde 1969 Hauptgeschäftsführer im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ).

Ich musste diesen Herrn in den 80er Jahren kennenlernen, als er als Pensionär regelmässig Lehrgänge für Auszubildende Verlagskaufleute in Zeitschriftenverlagen in der Seckbacher Buchhändlerschule betreute. Wir haben diese Gastkurse des VDZ damals gerne aufgenommen, weil sie im Dezember die Lücke füllen konnten, die entstand, weil Buchhändler-Auszubildende dringend im Verkauf gebraucht wurden und keine Berufsschule besuchen sollten. Ich erinnere mich noch, dass Mahnke einerseit fast serviler Respekt entgegengebracht wurde, während andererseits mein Freund und Kollege Klaus Staemmler aus offenbar guten Gründen deutlich Distanz hielt. Aber erst heute habe ich von der skandalösen Nazivergangenheit dieses Herren erfahren. 

Bei der Gelegenheit besuchte ich die Website des Verbandes, der über ein Jahrzehnt lang kein Problem mit dem Altnazi als Hauptgeschäftsführer hatte. Es wundert mich nicht, dass sich sein Name dort heute nicht mehr findet; dass die „Chronik” bis 1939 und dann wieder ab 1946 berichtet, ist sicher reiner Zufall.

Ich habe nie Verständnis oder gar Sympathie für die Forderung nach „endlichem Vergessen” oder wie auch immer der Wunsch nach Ende der Diskussion über die Nazi-Verbrechen genannt wird, gehabt. Gerade solche Geschichten, die uns vor Augen führen, wie nahe das Verbrecherpack uns bis zu seinem biologischen Verschwinden ständig gewesen ist, und wie selbstverständlich sie als Ehrenmänner auftreten konnten, lässt es mir kalt über den Rücken laufen und zeigt, dass nicht zuviel, sondern viel zu wenig aufgearbeitet wurde.

Was hätte ich als 25-jähriger getan, wenn ich von Mahnkes Vergangenheit gewusst hätte? Keine Ahnung. Eine Möglichkeit wäre gewesen, Verbündete zu suchen (bei der VVN, nach 1977 auch beim Simon-Wiesentahl-Center, seit 1995 gibt es das Fritz-Bauer-Institut).

Richtig wäre gewesen, den Mund nicht zu halten - egal, was ich getan habe oder hätte.

Edit 24.11.14:

Mittlerweile haben auch die SÜDDEUTSCHE und der SPIEGEL berichtet 





Montag, 10. November 2014

Darmstadt, November 1918 - die Väter der Revolution

 Im  Hessische Archiv-Dokumentations- und Informations-System” (HADIS) fand ich beim Blättern unter „Darmstadt, 1918” die folgenden Dokumente, die meinen vorhergehenden Bericht zur Revolution von 1918 in Darmstadt illustrieren. 






 Vollzugsausschuss des Hessischen Landesvolksrats 
- die Revolutionsregierung - 
im Garten des Ständehauses in Darmstadt


v. l. n. r.: / 1. Reihe sitzend: H[einrich] W[ilhelm] Schaub (1875-1930), Friedberg; W. Loos, Lehrer in Darmstadt; H[einrich] Delp (1878-1945), Stadtverordneter Darmstadt; W[ilhelm] Knoblauch (1874-1939), Redakteur Darmstadt; A. Storck, Gewerkschaftsbeirat Darmstadt; A[nton] Sparr (+ 1945), Arbeitersekretär Darmstadt; P. Knaus, Flieger; K. Dehn, Dragoner / 2. Reihe stehend; Kallmann, Flieger; F[riedrich] Hartmann (1859-1934), Landtagsabgeordneter aus Mühlhausen im Odenwald; L[udwig] Hasenzahl (1876-1950), Reichstagsabgeordneter, Erbach im Odenwald; G[eorg] Kaul (1873-1933), Offenbach; H. Elsesser, Stadtkommandant von Darmstadt; Wendel, Unteroffizier; G. Beckmann, Kaufmann in Gießen; G. Schäfer, Vizefeldwebel in Darmstadt; Faber, Landwirt Leihgestern; Seibert, Darmstadt





Wählen lernen - Herr (!) Bäuerle aus Stuttgart erklärt's!



Sonntag, 9. November 2014

„Da unten steht das zur Zeit gültige Recht mit der dazu nötigen Macht“

In den vergangenen Jahren schien es mir immer weltfremd und unhistorisch, dass die Bundesrepublik den 3. Oktober zum Feiertag der Einheit gemacht hat und nicht den 9. November.

Gerade heute habe ich allerdings ganz gegenteilige Empfindungen: das Gejubele um die gewonnene Einstaatlichkeit übertönt und verdrängt das Erinnern an andere deutsche November.

In zeitlicher Reihenfolge begehen wir heute:

die Erschiessung Robert Blums 1848
die deutsche Revolution 1918
den Hitler-Ludendorff-Putsch 1923
die Novemberpogrome von 1938 und
den Fall der Mauer in Berlin 1989


Dass 1974, ebenfalls an einem 9. November, Holger Meins an der Folge eines Hungerstreiks starb, scheint schon vergessen - auch wenn die Parole der spontanen Demonstration in Frankfurt am Main noch hieß: „Holger Meins, wir werden Dich rächen, Revolution heißt unser Versprechen”.

Am Donnerstag, dem 10. November 1938, lief meine 16-jährige Mutter früh morgens zusammen mit ihrem Vater durch Darmstadt, vorbei an den schwelenden Ruinen der in der Nacht zerstörten Synagoge. „Das werden wir büßen müssen" soll mein aufrecht christlich-antifaschistischer Großvater gesagt haben.

Die liberale Synagoge in Darmstadt
vor der Zerstörung 


19 Jahre früher war Darmstadt als Landeshauptstadt einer der deutschen Orte, an denen die Monarchie endlich unterging. Lothar Machtan hat in „Die Abdankung” (hier ein link zur Besprechung des neu nicht mehr lieferbaren Bandes) beschrieben, wie die zahnlosen deutschen Fürsten 1918 das Hasenpanier ergriffen, als es ums Ganze ging. Wie ein reifer Apfel fiel die Macht vom dürren Stamm der Aristokratie, und nicht überall führten die neuen Führer einen solchen Eiertanz auf wie die Berliner Sozialdemokraten, die Max von Baden, der nicht schnell genug davon gekommen war, nötigten, den Reichsverweser zu spielen, um ihnen die Macht „legal” zu übergeben. Darmstadt war 1918 hessische Hauptstadt und damit der zentrale Ort der Revolution im Land.


Die Revolution, die endlich den drückenden Krieg und seine Not beenden soll, erreicht auch Hessen im November 1918. Die auf dem „Griesheimer Sand“ kasernierten Soldaten erheben sich am 8. November, verweigern ihre Befehle, wählen „Soldatenräte“ und ziehen zu Tausenden in die Darmstädter Innenstadt.

„Auf der Straße“ übernimmt der Geschäftsleiter der Maurerorganisation, Heinrich Delp, eine entscheidende Rolle. (Heinrich Delp, 1878 - 1945. Gelernter Maurer. Gewerkschafter im Bauarbeiterverband. 1919 bis 1933 MdLVH. Landtagspräsident von 1928 - 1931. 1919 - 1926 Beigeordneter, 1926 bis 1933 Bürgermeister der Stadt Darmstadt. Starb wenige Tage nach der Befreiung, wahrscheinlich am 14. Mai 1945, im KZ Dachau an den Folgen der Haft. In der Landtagssitzung vom 25. November 1920 hat Heinrich Delp selbst die Vorgänge ausführlich erläutert. Ulrich zitiert die Rede in seinen „Erinnerungen“, SS. 104 – 109. ) Er erklärt dem Darmstädter Bürgermeister Dr. Glässing und dem Großherzog, die Stimmung der Arbeiter sei „ruhig und besonnen“ und spricht noch in der späten Nacht vor den empörten Soldaten, die das großherzogliche Palais stürmen wollen und bereits „die Namen Darmstädter Bürger und politisch maßgeblicher Persönlichkeiten“ (als künftige Opfer – pb) rufen, um sie erfolgreich zu beruhigen.

Am 9. 11. morgens konstituiert sich dann der „Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrat“ unter Vorsitz des Schriftsetzers Wilhelm Knoblauch, dem Vorsitzenden des Buchdruckerverbandes. Hessen-Darmstadt soll „freie sozialistische Republik, bis ein Deutscher Republikstaat gegründet ist“ werden. 

Carl Ulrich, der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Hessens.
Fotografie mit eigenhändiger Unterschrift
aus dem Besitz der Familie von Georg Raab


Der aus Offenbach nach Darmstadt geeilte Carl Ulrich fordert Großherzog Ernst Ludwig „ruhig aber bündig“ zur Abdankung auf, was dieser ablehnt. Den draußen wartenden Soldaten antwortet er auf die Frage, ob Ernst Ludwig zurückgetreten sei „Ihr habt ihn ja in der vorigen Nacht abgesetzt! Dabei bleibt´s!“ Der Arbeiter- und Soldatenrat, dem „Ernst Ludwig als Bürger der Republik stets willkommen“ ist (gelegentlich wird der Großherzog auch als „Bürger Brabant“ bezeichnet), beauftragt „die sozialdemokratische Landtagsfraktion … eine neue republikanische Regierung zu bilden“. Spätestens von diesem Beschluss an ist Georg Raab wieder handelnde Person, er gehört zu den mit der Regierungsbildung Beauftragten.

Georg Raab, seit dem 11. November 1918 „Direktor der Ministerialabteilung
für das Landes-, Arbeits- und Wirtschaftsamt“, nach der Landtagswahl von 1919
Minister für Wirtschaft und Arbeit bis 1928


Am Nachmittag des 10. November proklamiert Ulrich die Hessische Republik. Nachfragen der konservativen Mitglieder des „Staatsrates“ über die Legalität seines Tuns beantwortet er mit einem Wink zu den aufmarschierte Soldaten mit Kanonen und Maschinengewehren und den Worten: „Da unten steht das zur Zeit gültige Recht mit der dazu nötigen Macht“. Am 13. November wird die Regierung der großherzoglichen Minister offiziell in den Ruhestand geschickt, am 14. November das neue Staatsministerium gebildet.

(Auszug aus meinem unveröffentlichten Manuskript über den ersten hessischen Minister für Wirtschaft und Arbeit, Georg Raab, 1869 - 1932)

Mittwoch, 5. November 2014

Kleine Welt: Was Pfungstadt mit Atomspionage, einer österreichischen Kommunistin, einem DDR-Autor und dessen Tochter Gisela May zu tun hat

Barbara Honigmann habe ich kennengelernt, als wir auf Georg Büchners Spuren mit der Luise Büchner-Gesellschaft eine Exkursion nach Straßburg machten. Es gab eine Menge guter Gründe, Frau Honigmann um eine Lesung zu bitten: sie lebt in Straßburg und hat eine spannende deutsch-deutsche und eine ebenso interessante deutsch-jüdische Geschichte. Für uns kam als Besonderheit noch dazu, dass ihr in Wiesbaden geborener Vater bei Vietor in Gießen über Georg Büchner promoviert hat.

Sie hat als Buchhändlerin gearbeitet (bei „Das gute Buch” am Berliner Alexanderplatz), an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturgin und Regisseurin gearbeitet. 1976 trat sie in die (Ost-)Berliner jüdische Gemeinde ein, heiratete 1981 nach jüdischem Ritus und reiste mit Mann und zwei Kindern 1984 aus der DDR aus. Seitdem lebt die Familie in Straßburg. Sie ist Trägerin zahlreicher Preise, 2012 erhielt sie den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis, und hat eine ganze Reihe von Romanen und Erzählungen veröffentlicht. Für Frühjahr 2015 ist ein neuer Band bei Hanser angekündigt, dessen Manuskript sie in den letzten Tagen abgeschlossen hat.

Barbara Honigmann


Am 4.11. las sie auf Einladung des Darmstädter Literaturhauses im Programmschwerpunkt „Verlust und Verrat”. In Straßburg hatte Sie den Abend mit der Frage: „Soll ich erzählen oder lesen? Erzählen kann jeder!” begonnen.

Im Fokus beider Veranstaltungen stand ihr Buch „Ein Kapitel aus meinem Leben” von 2004. Die Geschichte ihrer Mutter, der Wiener  Kommunistin Litzy Kohlmann (1910 -1991), steht im Mittelpunkt der Erzählung.

Alice „Litzy” Kohlmann war in den Wiener Februaraufstand von 1934 verwickelt, wo sie in Verbindung zu dem britischen Salonkommunisten Kim Philby kam. Philby heiratete sie, um sie vor Verhaftung zu schützen. Höchstwahrscheinlich war sie in seine spätere Doppelagententätigkeit eingeweiht, vermutlich auch daran beteiligt. Im britischen Exil lernte sie den deutschen Intellektuellen Georg Honigmann kennen, mit dem sie eine zweite Ehe einging (und der 1949 Vater von Barbara wurde). Das Paar ging 1946 zunächst für die britische Militärregierung nach West-Berlin, wechselte aber 1947 in den sowjetischen Sektor, wo Honigmann für verschiedene Zeitungen arbeitete. Später waren beide für die DEFA tätig. 1956 heiratete Georg Honigmann nach der Trennung von Litzy die Sängerin und Schauspielerin Gisela May. Von 1963 - 1968 war Honigmann Direktor des Berliner Kabaretts „Die Distel”. Durch die zweite Ehe ihres Vaters lernte Barbara auch dessen neue Schwiegereltern, Gisela Mays Eltern Käte und Ferdinand May, in Leipzig kennen.

Hier schließt sich ein erstaunlicher Kreis: lange vor meiner Bekanntschaft mit Frau Honigmann hatte ich mich mit Ferdinand May beschäftigt. Er wurde am 16. Januar 1896 in Pfungstadt geboren, sein Vater arbeitete als Braumeister in der Pfungstädter Brauerei. Ferdinand May hat ein bemerkenswertes Leben gelebt. Als Sozialdemokrat arbeitete er nach 1918 für verschiedene Jugendprojekte in einer Art Werk- und Lebensgemeinschaft, gründete dann einen Handel mit Möbeln für Arbeiterhaushalte, die zur Ausstattung der Wohnungen seines Namensvetters Ernst May im „Neuen Frankfurt” Frankfurt gehörten. In Wetzlar, wo seine Tochter Gisela geboren wurde, gründete er einen Möbelhandel.

Cover der großartigen Gisela-May- CD/Buch/DVD-Box
bei Bear Family


Seine Frau Käte war Kommunistin, ihre liebevolle Verbindung entstand über die linke Jugendbewegung der Weimarer Zeit, der sich beide zeitlebens verbunden fühlten. 1926 wurde er Direktor der Leipziger Hausrat GmbH, einer städtischen Unternehmung zur kostengünstigen Versorgung der Arbeiterbevölkerung mit Mobiliar. 1932 wurde er dort Geschäftsführer des Kollektivs junger Schauspieler. May musste als Soldat in den Krieg. Sein Sohn Ulrich fiel, er selbst kam 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Zurück in Leipzig war er Mitbegründer des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands”. Er begann erste Hörspiele zu verfassen. Schließlich ernannte man ihn 1951 zum Chefdramaturgen der städtischen Theater in Leipzig, was er bis 1956 blieb. In dieser und der nachfolgenden Zeit bis zu seinem Tod 1977 entwickelte Ferdinand May eine rege literarische Tätigkeit. Es erschienen Hörspiele, Theaterstücke und Romane. 1953 schrieb er ein Drama über den französischen Revolutionär Gracchus Babeuf, das er 1957 zum Roman umgearbeitet veröffentlichte. 1958 erschien „Heinrich Crößmanns große Fahrt”, das Buch, das mich zuerst mit ihm in Verbindung brachte.

Das Buch mit einem Helden aus seiner Heimatstadt Pfungstadt erzählt die Geschichte eines Waisen, der aus Deutschland nach Amerika auswandert, dort in den Wirren des Bürgerkriegs ausgerechnet einen ehemaligen Lehrer (und Sympathisanten der Volksherrschaft) trifft, der es zum Berater der Nordstaatenregierung gebracht hat und der schließlich bei den „Wilden” Glück und Gleichheit sucht. Verzweifelt über die ungerechte Behandlung der Indianer kehrt Crößmann schließlich in seine Heimatstadt zurück. Dort sei er unter einem Grabstein mit einem eingemeißeltem Segelschiff begraben.  Diesen Grabstein, schworen mehrere Pfungstädter Stein und Bein, habe es wirklich gegeben. Ich kann inzwischen sicher sagen, dass das nicht stimmt, aber ich weiß, woher die „Erinnerung” kommt:

May, Crössmann. Berlin (Neues Leben)
1958. Schutzumschlag
May, Crössmann. Berlin (Neues Leben)
1958. Einband
das Buch trägt das Segelschiff auf dem Titel, und Mays Vorwort beginnt damit, dass er diesen erfundenen Grabstein aus seiner Erinnerung imaginiert. Für die Leser war daraus die eigene Erinnerung an einen Stein entstanden, den es nie gab.

Ferdinand May hat nach dem Krieg Verbindung mit Pfungstadt gesucht und der städtischen Bücherei eine ganze Reihe seiner Bücher geschickt. Dort wurden sie leider nicht aufbewahrt, sondern gingen den üblichen Weg „zerlesener” Bibliotheksbände. Vor ein paar Jahren konnte ich fast all seine Bücher günstig antiquarisch erwerben und dort wieder einarbeiten, sie stehen heute im Präsenzbestand. Die Texte sind allerdings auf eine Art regimetreu, die ihre Lektüre wirklich nur noch denjenigen zumutbar macht, die sich für ihn selbst oder die (Trivial-)Literatur in der DDR der 50er Jahre interessieren. Gleichzeitig sind sie aber mit einer lockeren Schreibe verfasst, die seinen großen Erfolg erklärt. Der Katalog der Deutschen Bibliothek nennt immerhin 66 Einträge, darunter zahlreiche Neuauflagen; im Katalog der Leipziger Städtischen Bibliotheken sind sogar 104 Einträge verzeichnet, darunter auch Aufsätze und Briefe.

Nach mehreren abgelehnten Gesuchen, in die der Pfungstädter Bürgermeister Heinrich Gunkel eingebunden war, hat das DDR-Regime erst nach dem Tod seiner Frau Käte (1969) und dem Eintritt des Rentenalters gestattet, dass er seine Heimat besuchte. 1977 kam er in Begleitung seiner Mitarbeiterin und Partnerin Christel Förster nach Pfungstadt und reiste von dort nach Lindenfels im nahen Odenwald, wo er offenbar noch Freunde aus seiner Jugenderzieher-Zeit hatte. Dort starb er überraschend am 8. November. Er liegt auf dem Leipziger Südfriedhof begraben.

Über mein Interesse an Ferdinand May hatte ich mehrfach Kontakt zu Gisela May, die mir natürlich als Brecht- und Eisler-Interpretin gut bekannt war, und führte mehrere ausführliche Telefonate mit ihr. Leider habe ich es bis heute nicht geschafft, sie in Berlin aufzusuchen. Ihre Stieftochter hat mir von gelegentlichen Besuchen bei der alten Dame berichtet.

Zu all den interessanten und weltpolitischen Verwicklungen kommt noch, dass Gisela May nach der Scheidung von Günter Honigmann mit Wolfgang Harich zusammenlebte. Harich war von 1952 - 1954 mit Isot Kilian verheiratet, der großen Schauspielerin und wohl Bert Brechts letzter Liebe. Harich gehört zu den SED-Rebellen der sogenannten Gruppe Harich, wurde 1956 verhaftet, kam erst 1964 durch Amnestie wieder frei, veröffentlichte 1975 den umstrittenen Band „Kommunismus ohne Wachstum”, wurde nach dem Mauerfall Mitglied eines „ZK der KPD-Initiative” und schließlich 1994 Mitglied der PDS.

Aber das sind andere Geschichten.

Samstag, 1. November 2014

Wider den „Herrenclub der Moderne” - Helene Schjerfbeck in der Frankfurter Schirn

Es gibt keinen Grund, mein geringes Wissen über Kunst am Beispiel der finnischen Malerin hier zu demonstrieren - die Schirn Kunsthalle hat ein wunderbares, kenntnisreiches und zum Besuch motivierendes „DIGITORIAL" über ihr Leben und Werk online gestellt.

Einen ersten Eindruck ihrer großen Kunst verschafft auch die Google-Bildersuche hier - dort sind auch all die Websites leicht zu finden, die das Urheberrecht der Malerin großzügiger betrachten als ich und ihre Bilder zeigen.

Die kluge Hängung der Bilder, die deutlich die künstlerische Entwicklung der Malerin beobachten lässt, zeigt die faszinierenden Arbeiten einer Frau, die unter ganz ähnlichen Bedingungen arbeitete wie die kürzlich im Darmstädter Kunstarchiv unter „Der weibliche Blick" gezeigten Künstlerinnen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Allerdings unterscheidet sich ihr Leben dadurch von vielen anderen, dass es ihr gelang, bereits als junge Frau und noch ohne die Erfahrungen der „Kunstreise” als 18-jährige ein Bild zu malen, das ihr öffentliche Anerkennung und in der Folge die Mittel zu der Reise einbrachte. „Verwundeter Soldat im Schnee” findet sich auch im erwähnten Digitorial.

Nach einer Europareise von einigen Jahren Ende des 19. Jahrhunderts hat Helene Schjerfbeck ihr finnisches Dorf fast 40 Jahre lang nicht mehr verlassen und die Anregungen zu ihren Bildern teils ihrem eigenen frühen Werk, teils der Erinnerung und teils dem Studium von Kunstzeitschriften entnommen. Julia Voss hat in ihrem Vortrag im Darmstädter Kunstarchiv unter dem Titel „Herrenclub der Moderne - warum die Kunstgeschichte umgeschrieben werden muss” darauf hingewiesen, wie wichtig gerade in den Zeiten, in denen Frauen der Zugang zu den Akademien verwehrt blieb, Fotografie und Druck für die Bildung der Malerinnen wurden, die sich so Kenntnisse und Vorbilder verschaffen konnten.

Die Ausstellung ist noch bis zum 11. Januar zu sehen UND EINE REISE WERT!

Alle Völker, die sich baden, sind gesünder als die, die es nicht tun*

Das Frankfurter Institut für Stadtgeschichte zeigt im Dormitorium des Karmeliterklosters noch bis zum 2. November eine Kabinettausstellung zur Geschichte des Badens in Frankfurt. 

Karmeliterkloster in Frankfurt am Main


Auf großen, gut gestalteten Tafeln und in einigen Vitrinen zeigt das Archiv die Entwicklung städtischer Badekultur seit den Zeiten der Römer. Deren Badekultur wurde allerdings nie wieder erreicht. Sowohl die mittelalterlichen Vergnügungen im Badezuber wie die modernen Wellness-Oasen bleiben von dem, was Römer unter Baden verstanden, um Welten entfernt.

Neben der so geweckten Sehnsucht nach den Tagen der lateinischen Zivilisation (jedenfalls für die Herrschenden...) bietet die Ausstellung aber mit einem Schwerpunkt auf das Badewesen zwischen 1871 und 1933 interessante Informationen über das Schwimmen im Main. Kilometerlang zogen sich in dieser Zeit öffentliche und private, geschlechtergemischte und geschlechtergetrennte Badeanstalten am Mainufer entlang. Natürlich verboten die Nazis der jüdischen Bevölkerung früh das gemeinsame Baden, schließlich wurde Juden auch das zunächst noch gestattete letze Freibad verboten (es wurde zum SA-Bad....). Ungefähr mit dem Kriegsende 1945 war es dann für alle vorbei mit dem Mainschwimmen - der Fluss verdreckte so sehr, dass Baden gesundheitsgefährlich wurde. Seit der Jahrhundertwende hat Frankfurt den Bau öffentlicher Frei- und Hallenbäder betrieben, auch deren Geschichte und die aktuelle Problematik zwischen Zuschussbedarf und Sanierungsproblematik wird nicht verschwiegen. Aktuell verfolgen private Investoren die Idee, ein Schwimmbad in einer Art Ponton auf dem Main einzurichten - dann allerdings mit Frischwasser in einem geschlossenen Becken.



auf einer der Ausstellungstafeln


Wir haben es leider erst am 30.10. geschafft, die Ausstellung anzusehen (und hatten das Glück, dass sie zwischenzeitlich bis zum 2.11. verlängert wurde); wer das nicht mehr schafft, aber interessiert ist, kann immerhin den informativen kleinen Katalog hier kaufen. 

*C.W. von Hufeland ca. 1800