Montag, 27. April 2015

Das ist überhaupt keine Zeitung ?!

Auf meinen Beitrag vom 15.4. zum BILD-Boykott hat Benno Sorg im Blog Direkte Aktion, das sich so beschreibt:
„Anstatt die Bürgerinnen und Bürger zu Zuschauern der Demokratie zu degradieren (wie das viele Medien tun, bietet Direkte Aktion vielfältige Möglichkeiten, aktiv einzugreifen, Druck auf die Politiker auszuüben und die Welt in der wir leben zu verbessern. Diese Bemühungen können alle LeserInnen unterstützen, indem sie bei den Aktionen mitmachen und diese aktiv weiterempfehlen. Direkte Aktion begreift sich als demokratisch und konstruktiv.”) 
hier  geantwortet: 
„Ein ehrenwertes Anliegen, das ernst genommen werden sollte. Dennoch teile ich seine Argumentation nicht vollständig und möchte dazu Stellung nehmen.”
In Kürze zu seinen Argumenten:

- grundsätzlich ist die Aufnahme einer Publikation ins Pressegrosso nur insofern von Kapital abhängig, als das dieses für die Produktion derselben vorhanden ist. Das liegt aber in der Natur der Sache.

- Ich bin sicher, dass es juristisch nicht gelingen wird, der Bildzeitung die Eigenschaft als Presseorgan abzusprechen.

- Argumente, die für einen selbst den Verstoß gegen geltendes Recht reklamieren, wenn die anderen als Erste dagegen verstoßen haben („Das Hetzblatt nimmt auch die anderen im GG vorgesehenen Grundrechte regelmäßig unter Feuer, wenn es denn der Hetze dient. Springer hat m. M. – zumindest moralisch - nach das Recht verwirkt, sich – als Verlag - auf das GG zu berufen."), sind natürlich keine.

Ganz d'accord bin ich mit dem Schluss seiner Argumentation, (wobei ich allerdings unsicher bin, ob ausgerechnet Springer mehr als andere von Werbung abhängt):

1.) Viel wirksamer: Der Springer Verlag und das Hetzblatt hängen zu 95% – mehr als jeder andere Verlag – vom Werbegeschäft ab. Wer im Hetzblatt (oder in der Online Ausgabe) wirbt, finanziert damit die Hetze der Bild.
Die Werbetätigkeit dieser Konzerne in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und sie an ihre Verantwortung (auch gegenüber ihren Kunden) zu erinnern – tut dem Hetzblatt mehr weh als der Boykott durch 1.000 Einzelhändler.
2.) Auch die Einzelhändler können – ohne sich in die rechtliche Grauzone zu bewegen – viel gegen das Hetzblatt tun. Indem sie auf Werbemittel verzichten, die Bild weniger präsent (bis gar nicht offen) auslegen, den Kunden im Verkaufs(beratungs-)gespräch zu besseren Publikationen raten.

Mittwoch, 15. April 2015

Nein, ich will nicht, dass mein Zeitungsladen BILD für mich boykottiert!

Ich habe hier kürzlich schon einmal über mein Verhältnis zur Bild-Zeitung geschrieben und habe dem wenig hinzuzufügen.

In den letzten Wochen werde ich nun immer wieder aufgefordert, in irgendeiner Weise einen „Bild-Boykott" der Zeitungsverkäufer zu befördern oder zu unterstützen.

In der facebook-Group BildNeinDanke schrieb ich kürzlich in einem Kommentar:


So einfach ist das leider nicht. Der Pressevertrieb ist ein häufig unterschätztes Standbein der demokratischen Informationsbeschaffung, und tatsächlich kann, wer als Händler zensierend in dieses Angebot eingreift, vom Vertrieb ausgeschlossen werden.

Hier ist mehr Platz und Muse, um das ein bisschen genauer zu erläutern (in diesem Beitrag sind alle Hervorhebungen von mir):

Zunächst zur Verfassung. §5 Grundgesetz:

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
...
Darauf beruft sich die Einrichtung des Presse-Grosso, des Vertriebssystems der Zeitungen und Zeitschriften vom Verlag zum Einzelhandel/Wiederverkäufer.

Zum Vertrieb findet sich im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
§ 30 Preisbindung bei Zeitungen und Zeitschriften 
...  Insoweit sind die ... Vereinigungen und die von ihnen jeweils vertretenen Presseverlage und Presse-Grossisten zur Sicherstellung eines flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertriebs von Zeitungen und Zeitschriften im stationären Einzelhandel im Sinne von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut. ... 
Über das Pressegrosso werden laut wikipedia heute in Deutschland 54% aller Zeitungen und Zeitschriften vertrieben, das ist deutlich mehr als der Abonnement-Absatz.

Der wikipedia-Artikel „Presse-Grosso” erläutert sehr gut, wie das funktioniert:

Deutschland ist in 79 sogenannte „Grossogebiete“ aufgeteilt, in denen 66 Grossofirmen tätig sind. Die Grossisten besitzen ein Alleinauslieferungsrecht, also insofern ein Monopol, lediglich in Berlin und Hamburg gibt es eine bedingte Konkurrenz zwischen Grossisten. Diese Ausnahme ist im Kartellrecht geregelt. Erst 2003 bestätigte die Bundesregierung das spezielle Vertriebssystem nochmals.
Verfassung und Ausgestaltung des deutschen Pressevertriebssystems basieren auf der Gewährleistung von Pressefreiheit und Pressevielfalt, die Artikel 5 des Grundgesetzes verbürgt. Es soll als neutraler Absatzmittler die Vielfalt, Jederzeit- und Überallerhältlichkeit von Presseerzeugnissen bestmöglich sichern. Die Freiheiten des Artikel 5, heißt es im Medienbericht der Bundesregierung von 2008, "würden leerlaufen, könnte nicht die gesamte Bandbreite der in- und ausländischen Verlagsproduktion de facto an jedem Ort von jedermann zu erschwinglichen Preisen gelesen werden können". Ein bis in den letzten Winkel des Landes funktionierendes Presse-Grosso ist vor allem für neue, finanzschwache oder an Minderheiten ausgerichtete Verlage lebensnotwendig. Sie sind zumeist außerstande, einen eigenen Vertrieb aufzubauen und zu erhalten.
Eine Reihe von Essentials für Erhalt und Weiterentwicklung des Systems sind in der Gemeinsamen Erklärung (GE) von 2004 zwischen den Verbänden der Zeitschriften- und Zeitungsverleger (VDZl, BDZV) und dem BVPG festgelegt worden. Diese sind insbesondere das Dispositions- und das Remissionsrecht, die Preis- und Verwendungsbindung sowie die Neutralitätsverpflichtung.
In seinem zugeteilten Gebiet unterliegt der Pressegrossist dem Kontrahierungszwang. Er hat folglich die Pflicht, nicht nur jede Verkaufsstelle zu beliefern, sondern auch jede auf dem Markt erhältliche Publikation anzubieten und in sein Programm aufzunehmen. Der Einzelhandel hat somit einen Belieferungsanspruch gegenüber dem Pressegrossisten. Außerdem hat der Einzelhandel das Recht, seine nicht verkauften Exemplare von Druckerzeugnissen zu remittieren. Die Verlage sind verpflichtet, sie zurückzunehmen (was die Pressegrossisten abwickeln). Diese Vorgaben sollen die wirtschaftliche Existenz kleiner Verlage und die faire Konkurrenz untereinander gewährleisten, nicht zuletzt auch die Basis der Verkaufsstellenbetreiber.
Genau betrachtet handelt es sich bei dem System also (mindestens) auch um die einzige Möglichkeit von periodischen Publikationen, mit halbwegs überschaubarem organisatorischem Aufwand in annähernd jeden Winkel unsere Republik zu kommen.

Mit anderen Worten:

Durch die weitgehenden Ausnahmeregelungen von Preis- und Wettbewerbsrecht wird die Möglichkeit geschaffen, Presseerzeugnisse breit anzubieten. 

Für die „Roten Fahne” über die „Nationalzeitung” und wer weiß was für abenteuerliche Blätter noch hat das dazu geführt, dass sie tatsächlich verfügbar wurden. Nun ist das in vielen Einzelfällen von vielen Einzelnen ganz sicher eher ungern gesehen, macht aber in der Summe, denke jedenfalls ich, durchaus Sinn. Und es macht wenig Sinn, in dieses gut begründete Vertriebssystem durch individuelle Boykotte der Händler einzugreifen. Die sind nämlich glücklicherweise verpflichtet, ALLE Publikationen, die ihnen geliefert werden, anzubieten.

Und ich bin sehr froh, dass ich nicht manchmal zum katholischen Bahnhofsbuchhandel und manchmal zur linken Kiezbuchhandlung muss, um mir meine persönlichen Informationsquellen zusammenzukaufen.

Das Neutralitätsgebot der Verkaufsstellen möchte ich nicht opfern, um die Bild-Zeitung zu schwächen. Dafür muss uns besseres einfallen. Und dass inzwischen die verrücktesten Spinner mit Verschwörungstheorien, Antisemitismus und ähnlich unappetitlichen Beweggründen auf den Bild-Boykott-Zug aufspringen wollen, spricht auch dafür, dass das der falsche Weg ist.

Dass hier möglicherweise eine Schlacht geschlagen wird, die sich in den nächsten Jahren durch elektronische Distribution und Zeitungssterben erübrigt, mag sein, ist aber eine andere Geschichte.