Donnerstag, 28. August 2014

Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum*

Überraschend gering scheint mir heute bisher die Würdigung von Siegfried Unselds Hochzeitstag - der angemessenerweise am Geburtstag des ähnlich großen Dichters Johann Wolfgang Goethe stattfand. Unseld hat sich selbst für seinen Grabspruch Hesses „Stufen” ausgesucht und damit zugleich auf ein einschlägiges Zitat des Olympiers verzichtet.

Am 28. August 1749 wurde Johann Wolfgang Goethe in Frankfurt am Main geboren. 1811 veröffentlicht er seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit” und beginnt mit den Worten:




Am 28. August 1749, Mittags mit dem
Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt
am Main auf die Welt. Die Constellation
war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der
Jungfrau, und culminirte für den Tag; Ju¬
piter und Venus blickten sie freundlich an,
Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars
verhielten sich gleichgültig: nur der Mond,
der so eben voll ward, übte die Kraft seines
Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine
Planetenstunde eingetreten war. Er wider¬
setzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher
erfolgen konnte, als bis diese Stunde vor¬
übergegangen.

So gefunden beim Deutschen Textarchiv


Im Ernst - es gibt schon schlechtere, derer am Geburtstag gedacht wird. Und der Weimeraner, den so viele immer wieder krampfhaft zum Frankfurter, andere sogar zum Hessen, machen wollen, ist bestimmt einmal im Jahr eines Gedanken wert - was fällt mir zu Goethe ein?

Ein guter Freund hatte an der Wand ein wahrlich ikonographisches Bild  (bei anderen war das „Marilyn, reading Ulysses”):


Nach dem Bild ist das möglichst unbefangen und assoziativ der Faust, ein paar Gedichtfetzen („Warte nur, balde ...” ; „ ... in seinen Armen das Kind ...”, „Röslein sprach ...”, ...), aus dem „Diwan” eins meiner Lieblingszitate: „Getretener Quark wird breit, nicht stark” und ein bisschen Prosa aus „Dichtung und Wahrheit”.

* Ludwig Börne in einem seiner „Briefe aus Paris” 

Börnes oft zitierter „Hass” auf Goethe ist natürlich kein kreatürlich-verabscheuender, Börne hasst intellektuell: gerade weil er Goethes außergewöhnliche Kunst kennt und würdigt, verachtet er den äußerlich servilen Fürstenknecht, der seinen Olymp nicht nutzt, um von dort mit Unterdrückung und  Fürstenherrschaft abzurechnen (wie Börne das von ganzem Herzen tut). Spätestens seit dieser Kontroverse müssen wir anerkennen, dass hohe Dichtkunst noch lange kein Zeichen für politische oder gar menschliche Qualität bietet. Glücklicherweise können wir heute ja Goethe und Börne lesen. Beider Werke sind natürlich längst gemeinfrei und auch online in durchaus erträglichen Formen digitalisiert zu finden. Ich empfehle die wikisource-Aufstellung zu Goethe und ebenso zu Börne.

edit I:

Bei heise online erschien zum gleichen Anlass ein Artikel zur geplanten historisch-kritischen Online-Ausgabe von Goethes Werke


und

edit II

In der FR schreibt der Tübinger Professor Wertheimer über den West-Östlichen Diwan: 

Goethe zeigt, wie es geht. Mit dem Mut, Denkschablonen abzustreifen; und auch mit Wut und „Unmut“, wenn’s sein muss! Und es muss sein, wenn es darum geht, sturen Dogmatismus – jeder Couleur – zu attackieren und ins Leere laufen zu lassen – durch ein schlichtes Bekenntnis zur Freiheit des Denkens:
„Mir gefällt zu konversieren,/ Mit Gescheiten, mit Tyrannen./ Da die dummen Eingeengten/ Immerfort am stärksten pochten,/ Und die Halben, die Beschränkten/ Gar zu gern uns unterjochten,/ (...) Dich vermag aus Glaubensketten/ Der Verstand allein zu retten,/ Dem du schon Verzicht getan.“