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Der Beitrag im Darmstädter Echo vom 8.7.16 - (noch?) nicht online zu finden |
Das
Darmstädter Echo hat kürzlich dazu aufgerufen, zur Rubrik
„mein Rezept” Vorschläge einzureichen. Gerade hatte ich mir bei meiner Schwester das bei mir wieder mal verlorene Kirschenmichel-Rezept meiner Familie abfotografiert und kurz danach ein Bild vom Ergebnis auf Facebook gepostet. So lag es nahe, die beiden Bilder auch per Mail ans Echo zu schicken.
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Mein Kirschenmichel |
Wolfgang Görg hat heute morgen einen netten Artikel daraus gemacht und mich auf die Idee gebracht, jedenfalls diese Essens-Geschichte meiner Familie - und vielleicht gelegentlich mehr - hier ausführlicher zu erzählen.
Meine väterlichen Großeltern waren Pfungstädter Bauern, meine Großmutter Elisabeth (* 1894) aus langer Familientradition (ihre Mutter war eine geborene Crößmann, das ist Pfungstädter Ur-Adel ...), mein Großvater Adam (* 1895) eher wider Willen nach Kaufmannslehre bei Merck und einer leichten Behinderung aus dem ersten Weltkrieg. Nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft haben sie, von den Familien vermittelt, am 1. März 1919 geheiratet. Tatsächlich waren die beiden kein klassisches Bauernpaar. Mein Großvater fand schnell die Gelegenheit, seine kaufmännischen Qualitäten einzusetzen und wurde Gründungsmitglied und „Rechner” der Pfungstädter Molkereigenossenschaft.
Fest verankert in der pietistischen „Landeskirchlichen Gemeinschaft” hat er den „Jugendbund für entschiedenes Christentum” in Pfungstadt mitgegründet. Jahrzehntelang fanden die Gemeindeversammlungen in dem stattlichen Fachwerkhaus statt. Trotz all dem - und ich glaube, notgedrungen - stand die Landwirtschaft im Mittelpunkt ihres Lebens. Im Dezember 1919 wurde mein Vater Willy geboren, 1921 die Tochter Katharina (Kätha) und 1924 der Sohn Adam. Mein Vater war ein so guter Schüler, dass man ihm den Besuch des Gymnasiums in Darmstadt erlaubte und an seiner Stelle Adam, den jüngeren Bruder, auf die Übernahme der Landwirtschaft vorbereitete. Die Eltern Adam und Elise arrangierten sich mit ihren Interessen - sie hatte keine Lust auf Hauswirtschaft, er keine auf Landwirtschaft. So wurde sie die Bäuerin, die von Morgens bis Abends mit den Pferden auf die Äcker zog und schwer in der Landwirtschaft „ackerte”, und er der Kaufmann, der, soviel ich weiß stets ehrenamtlich und unbezahlt, bis in die sechziger Jahre viele Stunden in der Verwaltung der Genossenschaft verbrachte. „Natürlich” hat er trotzdem täglich lang und schwer im Stall und auf dem Hof gearbeitet. Die eigentliche Hauswirtschaft übernahm eine der drei unverheirateten Schwestern meines Großvaters, Katharina Brunner (* 1893), die aus ihrem Elternhaus in Arheilgen nach Pfungstadt geholt wurde.
Die 40 Morgen - 10 ha - Land und vielleicht 12 Kühe, 2 Pferde, ein paar Schweine, Hühner und die Lieblingen meines Großvaters, große weiße Ziegen, ernährten neben der so sechsköpfigen Familie noch einen Knecht und eine „Gemeindeschwester” der „Liebenzeller Mission”, die jahrzehntelang ein Zimmer im Haus bewohnte. Das Leben in der Enge des äußerlich großen, tatsächlich aber durchaus bescheiden bemessenen Wohnhaus ist heute kaum noch vorstellbar - bis in die fünfziger Jahre gab es kein Bad und keine Toilette im Haus.
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Zwischen 1945 und 1947. Meine Großeltern Elisabeth und Adam Brunner (hinten Mitte), rechts hinten Susanne „Sanny” Brunner, eine weitere Schwester meines Großvaters, vorn links die Tochter Katharina, daneben unten in der Mitte die Schwester meines Großvaters, die „Hausköchin” Käthe Brunner, rechts vorne Willi Leichtweis, der Schwiegersohn. Das Mädchen auf Käthas Schoß ist wahrscheinlich meine Großkusine Edeltraud. Der Schäferhund hieß Senta. Die beiden links hinten sind mir leider nicht bekannt - vielleicht die Nichte meines Großvaters, Änne, mit ihrem Mann Hans? |
Kätha übernahm souverän die Hausfrauenaufgaben, auf die ihre Schwägerin keine Lust hatte, und wurde zu einer begnadeten Köchin. Ich glaube nicht, dass sie jemals wer gefragt hat - vielleicht nicht einmal sie sich selbst - ob sie vielleicht ein anders Leben lieber leben würde. Zur Arbeit in Pfungstadt gehörte nicht nur die tägliche Versorgung, sondern auch Vorratshaltung - natürlich wurde in großem Stil „eingemacht” - und das Kochen bei Familienfesten und bäuerlichen Sondereinsätzen wie dem herbstlichen Dreschen. Irgendwann gesellte sich zu der Großfamilie noch ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das sein Gehör nach Misshandlung durch ihren Vater früh verloren hatte und ein einfaches Gemüt und ein treue Seele hatte. Katharina Poppert - „das Bobberts-Käthchen” - lernte schnell, von den Lippen zu lesen, allerdings nur das ihr von Kindheit an vertraute Pfungstädter Platt, das sie bis auf ihre alten Tage in völlig unverfälschter Form der 1910er Jahre sprach, und lebte als „Faktotum” jahrzehntelang im Haushalt mit.
Beide Söhne mussten Soldat werden - mein Vater zog 1939 als „Einjähriger” in den „Frankreichfeldzug", von wo er bald und heil zurückkam. Er nahm dann statt des eigentlich gewünschten Theologie-Studiums, für das er nicht vom Kriegsdienst freigestellt worden wäre, ein Maschinenbaustudium in Darmstadt auf, aus dem er später erneut, diesmal in den „Afrika-Feldzug”, abberufen wurde. 1944 ist er auf dem „Rückzug” in Italien unverletzt in britische Gefangenschaft gekommen und hat den Rest des Krieges in einem nordafrikanischem Gefangenenlager der Briten verbracht, aus dem er im Januar 1948 zurückkam, kurz bevor seine Schwester Kätha, die inzwischen den Eschollbrücker Bauern Willy Leichtweis geheiratet hatte, im Kindbett starb. Mein Onkel Adam war am 26. April 1944 in Russland gefallen.
Damit waren alle Pläne der Familie gescheitert - weder der Sohn Adam noch der Schwiegersohn, der nach dem Tod der seiner Frau irgendwie als nicht mehr zur Familie gehörend behandelt wurde, übernahmen die Landwirtschaft, die in den fünfziger Jahren immer weiter zurückgefahren und schließlich aufgegeben wurde.
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Meine Eltern Willy und Irmgard mit meinen Schwestern und einem der Familienlieblinge. Ca. 1952 an genau dem gleichen Ort im Hof des Bauernhauses fotografiert wie das Familienbild weiter oben. |
Mein Vater hat 1948 geheiratet, das Theologiestudium aufgenommen und ist Pfarrer geworden. Auf seiner ersten Pfarrstelle im rheinhessischen Badenheim, wo ich 1956 geboren wurde, hat ihn Martin Niemöller, der Kirchenpräsident, ordiniert.
Für mich sind Kätha Brunners Rezepte, die wohlhabend-bäuerliche Küche meiner Ahnen, ein wichtiges Stück Familientradition. Sie zog in den fünfziger Jahren zurück zu ihren Schwestern nach Arheilgen zurück und lebte dort mit ihnen bis zu ihrem Tod 1972. Erneut übernahm sie die Rolle der Köchin, und das Haus war stets von Geruch und Geschmack ihrer Arbeit erfüllt. Reichhaltige Suppen, Braten und Soße, Klöße (natürlich aus gekochten Kartoffeln) und Kuchen (riesige Bleche voller üppiger Hefekuchen) werden in meinen Träumen immer aus Käthas Küche kommen und nie wieder so gut schmecken, wie sie die machen konnte. Auch Latwerge und eingekochte grüne Bohnen habe ich nie wieder in der Qualität gegessen. Meine Mutter hat viele ihrer Rezepte aufgeschrieben und unverändert zubereitet, so eben auch den Kirschenmichel, den wir immer noch alljährlich zur Kirschenzeit backen. Bei Käthe wäre der übrigens nie, wie heute bei uns, als vollständige Mahlzeit auf den Tisch gekommen - ebenso wie später im Jahr vor dem Quetschekuchen hätte es zunächst einen ordentlichen Eintopf, wahrscheinlich eine Kartoffelsuppe, gegeben.
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Käthas Kirschenmichelrezept, von meiner Mutter aufgeschrieben |
„Natürlich” war auch meine Mutter eine ordentliche Hausfrau und gute Köchin. Mein Vater starb schon 1964, und sie musste mit drei Kindern aus dem Pfarrhaus zurück in die Enge des Pfungstädter Schwiegerelternhauses. Aber das ist eine andere Geschichte.
* in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” öffnet der Geruch von in Tee getauchtem Gebäck die Erinnerung. In der
FAZ hat Volker Stollorz hier darüber geschrieben.